Predigt von Jutta Höcht-Stöhr am 12.11.2017 in St. Matthäus zum Auftakt der Friedensdekade 2017
Es gibt Texte, die sind nicht von dieser Welt. Sie sind der Gegensatz von allem, was wir kennen. Aber sie sind der Inbegriff von allem, was wir hoffen. (Zu Micha 4,1-4, s.u.)
Ein Text als Erfolgsstory
Dieser Text aus dem Buch des Propheten Micha gehört dazu. Er hat mit seinen starken Bildern in den 1980er Jahren die DDR-Friedensbewegung inspiriert: von hier stammt ihr Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ mit dem prominenten Aufnäher auf Jacken, der einen Mann beim Umschmieden eines Schwertes abbildete. Dieses Bild auf dem Aufnäher wiederum zeigt eine Statue, die auf dem Gelände der Vereinten Nationen in New York steht. Ausgerechnet die Sowjetunion hat die monumentale Skulptur 1959 bei einem sowjetischen Bildhauer fertigen lassen und sie den Vereinten Nationen geschenkt zum Zeichen ihres Friedenswillens. Dass sich die DDR-Friedensbewegung dann aber in Zeiten des Kalten Krieges und des Wettrüstens der 80er Jahre auf dieses sowjetische Geschenk berief, war der DDR überhaupt nicht recht. Es wurde als Wehrkraftzersetzung verfolgt.
Traum und Wirklichkeit sind hier unmittelbar beieinander. Deutlich ist: dieser Text und seine Bilder haben eine enorme Wirkungsgeschichte.
Wann der Text entstanden ist und wer ihn verfasst hat, ist umstritten. Er findet sich nämlich nicht nur hier, sondern fast wortgleich beim Propheten Jesaja (2, 2-5). Jesaja und Micha lebten zeitgleich in bzw. nahe bei Jerusalem. Sie teilten dieselben geschichtlichen Erfahrungen. Ob der Text aber von einem von ihnen beiden stammt, oder doch sehr viel später nach vielen Katastrophen entstanden ist, darüber streiten die exegetischen Geister.
Dass ein Text aber in zwei Prophetenbüchern vorkommt, ist die absolute Ausnahme. Es zeigt, wie wichtig er war. Heute in den Sozialen Medien des Internets würde man es „Sharing“ nennen: Man teilt einen Text, weil man ihn mehr Leuten zuspielen will. Plagiat war keine Frage damals. Wer kopierte, würdigte vielmehr die Bedeutung und Wichtigkeit eines Textes.
Eine „regulative Idee“
Was aber ist dieser Text? Eine Utopie vom Weltfrieden, die nie stattfinden wird? Eine Realutopie, die eine Chance haben könnte, einmal Wirklichkeit zu werden? Eine regulative Idee, die uns die Zielperspektive vorgibt, in die wir denken müssen?
Ich möchte es so beschreiben: Alles, was wir tun im Streit und in der Zusammenarbeit der Völker, sollte dieses letzte Ziel im Auge haben. Nichts was wir tun, sollte dieses Ziel letztlich unmöglich machen. Also doch so etwas wie eine „regulative Idee“. Dieser Begriff ist von Immanuel Kant geprägt worden. Er meinte damit Vorstellungen, die wir bilden, um einen Gesamtzusammenhang unserer Wirklichkeit zu denken. Gott, Seele und Welt sind für Kant solche Ideen. Sie alle dienen dazu, sich ein Bild von unserer Welt zu machen, bei dem nicht alles in Einzelteile zerfällt, die keinen Sinnzusammenhang ergeben. Wir sprechen von „Welt“ in dem Sinn, dass wir sagen: es gibt etwas, was sie im Innersten zusammenhält. Beweisen können wir das nicht. Unsere Erfahrung deckt das nicht ab. Aber wir brauchen diesen Gedanken, diese regulative Idee, um sinnvoll und zielvoll handeln zu können. Ob es eine unsterbliche Seele gibt, wissen wir auch nicht. Niemand hat sie je gesehen, auch wenn die alten Künstler sie manchmal malten, wenn sie einen sterbenden Menschen verlässt. Nein, wir schaffen die Vorstellung der Seele, weil wir den Gedanken brauchen, dass es irgendwie weitergeht mit uns nach dem Tod. Dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit für das unabgegoltene Leid gibt und dass die Ungerechtigkeiten der Welt nicht schon das Weltgericht sind.
So eine Art „regulative Idee“ – oder vielleicht sollte ich in dem Fall besser sagen eine Art „regulatives Bild“ – könnte auch unser Prophetentext sein. Er gibt uns mit seinen starken Bildern die Perspektive vor, die alles zusammen hält. Vielleicht werden wir dies nie als Erfahrung in unserer Wirklichkeit erreichen und erleben, aber es gibt die Richtung vor, in die wir denken sollen. Es ist eine Idee, eine Vorstellung der religiösen Vernunft. Eine Hoffnung. Ein Gebet. Eine Verheißung. Die Verheißung eines friedlichen Zusammenkommens der Völker.
Völkerkampf und Völkerwallfahrt
Die alttestamentlichen Fachleute nennen das große Bild vom Strömen der Völker zum Gottesberg in Jerusalem, das bei Micha und Jesaja entworfen wird, die „Völkerwallfahrt zum Zion“.
Dieses Bild ist uralt und hat sich immer wieder verändert. Das Bild vom „Strömen“ kommt ursprünglich aus mythischen Zeiten: damals war der Zionsberg von chaotischen Wassern umströmt, ein Fels in der Brandung. Es gibt spätere historisierte Varianten des Bildes, die aus der Brandung heranstürmende Feinde machen: So zur Zeit der Belagerung Jerusalems durch die Assyrer, die Jesaja im Jahr 701 vor Christus miterlebt hat. Aus solchen Erfahrungen entstand das Bild vom „Völkerkampf“, der um den Zion tost wie einst die chaotischen Wasser. Das Gegenbild bei Jesaja und Micha hingegen ist die friedliche „Völkerwallfahrt zum Zion“. Diese Völker, die die Gottesstadt durchströmen sind keine Bedrohung mehr. Ganz im Gegenteil.
Je nach der Zeit und ihren Ereignissen wurde das Bild vom Zion und den Völkern umgeprägt. Es ging um Chaos und Kampf oder um Frieden und Gerechtigkeit.
Unser Text aber ist der wichtigste von allen geworden und der allein lebendig gebliebene. Er wurde nicht nur damals geteilt, er wird bis heute geteilt. Bis in die Gründung der Vereinten Nationen und bis in die Friedensbewegung des Kalten Krieges und – ja: bis heute, wenn wir ihn wieder hören in unseren Tagen und in unseren politischen Verhältnissen.
Es geht um Recht und Vermittlung
Was aber suchen die Völker am Zion? Warum kommen sie? „Von Zion geht Weisung“ aus, heißt es. „Gott wird Recht sprechen zwischen den Völkern und sich als Mittler einsetzen für Nationen“.
Auslegern zufolge knüpft eine solche Vorstellung an reales Brauchtum in der Antike an. Man pflegte nicht nur die eigenen Heiligtümer, man erwartete von weithin berühmten Heiligtümern hilfreiche Entscheidungen. So sollen sich die Römer ihr Zwölftafelgesetz in Delphi bestätigen haben lassen. Ja in Delphi scheint sogar der Versuch gemacht worden zu sein, ein internationales Kriegsrecht zu schaffen. Und es war für die dortige Priesterschaft bezeichnend, dass sie sich bemüht hat, Kriege, die sie nicht unterbinden konnte, wenigstens zu humanisieren.
Es geht auch bei Jesaja und Micha nicht um eine Bekehrung zu einem anderen Glauben, sondern um die Beilegung konkreter Konflikte durch das anerkannte Urteil eines weithin berühmten Heiligtums. Um Weisung und Rechtsurteil und Vermittlung für Völker und Nationen.
Das weltgeschichtlich bedeutsame Erbe der prophetischen Tradition lässt sich in diesem Text finden. Ein universalistischer Grundton, der weder imperial noch ideologisch ist und auch keinen religiösen Alleinvertretungsanspruch enthält. Jeder bekennt sich zu seinem Gott, aber alle ziehen gemeinsam zum Berg Zion. Auf der Suche nach Ethik und Recht. Es hört sich an wie eine erste Vision der Vereinten Nationen, wo alle sich an eine Charta halten und das Verbindende vor das Trennende stellen.
Die Vereinten Nationen als säkulare Gestalt
Die Vereinten Nationen haben auf säkulare Weise dieses alte prophetische Bild vom friedlichen Zusammenströmen der Völker übernommen. Und dass ausgerechnet die kommunistische Sowjetunion die Statue vom Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen gestiftet hat, zeigt, wie stark das Bild ist über seinen religiösen Ursprung hinaus.
Doch nun kennen wir den Realzustand der Vereinten Nationen. Und dass von dort zwar manchmal Rechtsprechung und Weisung und Vermittlung ausgeht, oft aber auch Blockade und Durchsetzung eigener Machtinteressen. Alles umsonst also? Doch nur eine Utopie ohne Realitätsgehalt? – Auf keinen Fall! Jetzt müssen wir ernst nehmen, was ich eingangs im Blick auf die regulativen Ideen gesagt habe: Sie sind es, die die Einheit unserer Welt denken, damit uns nicht alles in Einzelteile zerfällt. Wir könnten auf ältere, chaotische Bilder der Zionstradition zurückfallen: das mächtige Brausen der Wasser, den Ansturm der Feinde und den Völkerkampf um den Zion. Oder wir halten fest am Bild Jesajas und Michas vom Strömen der Völker auf der Suche nach Weisung, Recht und Vermittlung. – Letztlich ist es eine Entscheidung, was unsere regulativen Ideen sein sollen. Die alttestamentlichen Propheten sind hier ganz klar. In großer Übereinstimmung.
Dass die Wirklichkeit diese Hoffnungen nicht einlöst, ist kein Grund, auf sie zu verzichten. Im Gegenteil.
Denn was würde geschehen, hätten wir diese Bilder vom friedlichen Zusammenkommen der Völker gar nicht mehr als Regulativ? Momentan scheint der Mythos vom Völkerkampf wieder in den Vordergrund zu treten in einer Weise wie wir das seit der Gründung der Vereinten Nationen nicht mehr für möglich gehalten hätten. Saudi-Arabien hat in diesen Tagen Iran den entscheidenden Kampf angesagt und sucht sich ausgerechnet Israel als Verbündeten gegen diesen gemeinsamen Feind. Der amerikanische Präsident Donald Trump droht dem Nuklearstaat Nordkorea mit „Feuer und Zorn, wie es die Welt noch nicht gesehen hat“. Und die Welt hat bereits zwei Atombomben gesehen.
Im Gegenzug hat der Papst, der seit längerem vor einem neuen Weltkrieg nuklearen Ausmaßes warnt, an diesem Wochenende Friedensnobelpreisträger, Vertreter der Vereinten Nationen und der NATO zu einer Anti-Atom-Konferenz in den Vatikan eingeladen, um Atomwaffen zu ächten. Da, im Vatikan dieses Papstes scheint es wieder auf, das Bild vom Zusammenströmen der Völker, um Weisung, Recht und Vermittlung zu finden. Das Bild vom Umschmieden der Waffenpotentiale. Auch der Vatikan kann ein starker Vertreter der prophetischen Vision sein.
Am Ende aber wir alle: das „Teilen“ von Dingen, die man schätzt und befördern will, ist heute die gängigste Methode, große Wirkung zu erzielen. Und in gewisser Hinsicht ist jeder Gottesdienst heute eine Völkerwallfahrt zum Zion.
Weltkulturerbe der Propheten
Unsere Ausrichtung als Kirchen, als Nachfolger Jesu, die durch ihn Zugang gefunden haben zu den wichtigen prophetischen Texten der Hebräischen Bibel, muss hier ganz klar sein. Unsere regulative Idee ist das große Bild vom Völkerfrieden, das Jesaja und Micha zum Weltkulturerbe der Menschheit beigetragen haben. Für dieses Weltkulturerbe müssen wir auch bereit sein zu streiten, wie es die diesjährige Friedensdekade sagt: gegen alle Fundamentalisten und Nationalisten, gegen alle, die sich überheben über andere und andere ausgrenzen aus der Gemeinschaft der Völker und Religionen.
Micha endet mit einer Formulierung, die den Frieden, um den es geht, ganz konkret in das Leben des Einzelnen einzeichnet: „Und ein jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand schreckt ihn mehr auf.“ Das Bild könnte idyllisch wirken, es ist aber in Wirklichkeit das Bild eines tiefen Friedens, wie er in Zeiten guter Regierung entsteht.
Stellen Sie sich vor: keine Flüchtlingsströme mehr, die um die Erde ziehen, weil sie zuhause das haben, was sie brauchen. Eine friedliche Existenz. Weil statt Waffenhandels Winzermesser zur Kultivierung von Weinstöcken produziert werden. Diese Bilder haben eine tiefe Emotionalität. Sie berühren uns. Vielleicht werden sie nie Wirklichkeit. Aber sie geben uns die Motivation, nicht aufzugeben, die Welt als eine Einheit zu denken.
Micha 4,1-4
Am Ende der Tage wird es geschehen: Da wird der Berg des Hauses des HERRN fest gegründet stehen als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen Völker.
Viele Nationen gehen und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN und zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterweise uns in seinen Wegen, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion geht Weisung aus und das Wort des HERRN von Jerusalem.
Er wird Recht sprechen zwischen vielen Völkern und sich als Mittler einsetzen für mächtige Nationen bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Nicht mehr wird Volk gegen Volk das Schwert erheben, und sie erlernen nicht mehr den Krieg.
Und ein jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand schreckt ihn auf.
Ja, der Mund des HERRN der Heerscharen hat gesprochen.
PREDIGT VON JUTTA HÖCHT-STÖHR AM 12.11.17 IN ST. MATTHÄUS im Rahmen von „Streit!“ – Ökumenische Friedensdekade vom 12. – 22. November 2017
Bild: Geschenk der Sowjetunion an die Vereinten Nationen in New York 1959. ©Neptuul – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0