Offen bleiben, zuhören können.
Als Leiterin der Evangelischen Stadtakademie pflegte Jutta Höcht-Stöhr den Dialog mit anderen Religionen. Jetzt geht sie in den Ruhestand.
Von Thomas Anlauf
Die frohe Botschaft kam zu früh. Eine Woche nach Ostersonntag sprach Jutta Höcht-Stöhr im Bayerischen Rundfunk einen Kommentar über das mögliche Ende des Lockdown. Sie zitierte darin eine Passage in „Die Pest“ von Albert Camus: Die Protagonisten der algerischen Stadt Oran stehen da nach monatelanger Quarantäne hoffnungsvoll am Bahnsteig und empfangen ihre aus dem Pandemie-Exil zurückkehrenden Lieben. „Dieser Moment der Befreiung stellt noch einmal einen Moment der Gemeinsamkeit aller dar, die über Monate eingeschlossen waren“, schrieb sie in ihrem Kommentar im Frühjahr 2020. Jutta Höcht-Stöhr wollte den Menschen Hoffnung machen. Und sie dazu ermuntern, sich zu fragen: Wie geht es nach der Pandemie weiter? Was haben wir in diesen dunklen Monaten gelernt von einander? Für die scheidende Leiterin der Evangelischen Stadtakademie ist die Antwort eindeutig: „Corona hat uns langfristig verändert.“
Das meint die evangelische Pfarrerin durchaus auch positiv. Das Camus-Seminar, das sie damals für die Evangelische Stadtakademie entwickelt hatte, war das erste, das ausschließlich online stattfand. Und Jutta Höcht-Stöhr war angenehm überrascht, wie viele Menschen, auch alte, an dem Angebot teilnahmen. „Die Online-Veranstaltungen waren eine Art Seelsorge, gerade die Älteren waren ja im Lockdown gefangen“, erzählt sie und blickt dabei lächelnd über ihre randlose eckige Lesebrille hinweg. Die Menschen erlebten per Videokonferenz plötzlich eine Art Vertrautheit: Jeder saß in seinem Wohnzimmer und hörte zu oder diskutierte mit.
Das ist die große Fähigkeit von Jutta Höcht-Stöhr: Sie kann auf eine besondere Art zuhören, im Gespräch merkt man erst im Nachhinein, dass man vielleicht mehr von sich erzählt als vom Gegenüber erfahren hat. Dabei diskutiert sie leidenschaftlich gern und sucht Antworten auf wichtige Fragen. „Aber nie um den Preis, dass man sich selbst aufgeben muss“, sagt Björn Bicker. Der Regisseur und Autor kennt die Akademie-Leiterin seit etwa zehn Jahren und ist Mitglied im Kuratorium der Akademie. Der 48-Jährige ist angetan von ihrer Ehrlichkeit und Offenheit, auch wie sie trotz ihres zweiten Standbeins als Pfarrerin auf andere Religionsgemeinschaften zugeht und immer offen für Neues geblieben ist. „Das hat mich sehr beeindruckt, mit welcher Verve sie am Ende ihrer Amtszeit die Digitalisierung in der Evangelischen Stadtakademie vorangebracht hat“, sagt Bicker.
Ruhestand. Jutta Höcht-Stöhr blickt auf, als sie das Wort ausspricht. „Ja, das ist ein kompletter Ruhestand.“ Es ist nicht nur so, dass sie nach zwei Jahrzehnten zum 1. März die Leitung der Evangelischen Stadtakademie an Barbara Hepp übergibt, die als Sozialethikerin zunächst Studienleiterin der Evangelischen Akademie in Berlin war, Referentin des früheren Landesbischofs Johannes Friedrich und zuletzt Militärseelsorgerin und Dozentin an der Universität der Bundeswehr. An diesem Sonntag wird Jutta Höcht-Stöhr auch ihre letzte offizielle Predigt in der Matthäuskirche am Nußbaumpark halten. Sie wird dann als Pfarrerin entpflichtet und darf nur noch auf Einladung predigen. Dabei „habe ich das total gerne gemacht“, sagt sie. Dort, an ihrer zweiten Wirkungsstätte neben der nahegelegenen Stadtakademie in der Herzog-Wilhelm-Straße, gibt es immer wieder besondere Begegnungen. Zum Beispiel im September 2019: Damals organisierten die Stadtakademie, der Verein Regsam und die Arbeiterwohlfahrt eine Ausstellung über Obdachlose und mit Obdachlosen, die sich und ihren Alltag selbst fotografierten. Zur Vernissage erschienen Dutzende Obdachlose, die hofften, dass es bald etwas zu essen gebe. Also wurden die Ansprachen abgekürzt und Pizzableche geordert, dafür tanzten und musizierten die Wohnungslosen für die geladenen Gäste. Auch solche Geschichten beeindrucken Jutta Höcht-Stöhr. Sie lernte da, möglichst niemals in einer eigenen Blase zu denken.
Das tat sie auch auf ihren vielen Reisen, die sie vor allem mit der Evangelischen Stadtakademie unternahm. Vier oder fünf Mal ging es in den Iran, nach Israel und in die palästinensischen Gebiete, einmal zur Istanbul-Biennale, nach Indien und Japan. „Es macht so glücklich, wenn Reisen nicht nur Stippvisiten sind, sondern man Beziehungen knüpft“, sagt die gebürtige Fränkin, die in Heidelberg und Tübingen Theologie studierte und von 1983 bis 1991 Studienleiterin des „Forums für Junge Erwachsene“ an der Evangelischen Akademie Tutzing war. „Meine wahre Ausbildung habe ich dort in der Akademie bekommen“, sagt sie. Sie wohnte damals mit Mann und kleinem Kind sogar dort im Schloss. Es war eine glückliche Zeit.
An den Starnberger See wird sie nun zurückkehren; sie zieht in Starnberg in eine kleine Wohnung. Doch vorher will sie noch eine Reise machen, in die Schweiz, zu einem Seminar über Zen-Buddhismus, wenn die Pandemie einen Grenzübertritt erlaubt. Aber Jutta Höcht-Stöhr kennt eigentlich keine Grenzen, das widerspricht ihrer Offenheit.
Dieser Artikel ist erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Februar 2021. Abgerufen online unter: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/offen-bleiben-zuhoeren-koennen-lernen-von-camus-1.5217818