Liebe Gemeinde,
derzeit können Sie in der Galerie der Deutschen Gesellschaft für Christliche Kunst in der Finkenstraße eine interessante Ausstellung junger Künstler sehen: „Fürchtet euch (nicht)!“ heißt sie – aber das „nicht“ ist in Klammern gesetzt. Man kann den Titel also so oder so lesen: „Fürchtet euch!“ oder „Fürchtet euch nicht!“ Eine der gezeigten Arbeiten trägt den Titel „Die Große Angst“. Der 31-jährige Sebastian Tröger hat sie gemalt: ein monumentales Schwarz-Weiß Gemälde, 3 x 9 m groß. Es erinnert an „Guernica“, das große Bild von Pablo Picasso von 1937, das den Schrecken des Krieges zeigt. Aber „Die Große Angst“ von Sebastian Tröger entstand jetzt, 2016 und sie zeigt plakativ und verstörend die großen Ängste unserer Zeit: Von links drängt eine Kugel mit einem fratzenhaften Gesicht ins Bild: „Phobos und Ares erobern die Welt“, heißt es dazu im Katalog. Das griechische Wort „Phobos“ bedeutet „Furcht, panische Angst“ und ist ein Gott der griechischen Mythologie. „Ares“ ist sein Vater, der Gott des schrecklichen Krieges, des Blutbades und Massakers. Phobos und Ares, Furcht und Schrecken haben die Welt hier im Griff.
Von rechts schießt ein Floß ins Bild. Auch dieses Floß kennen wir aus der Kunstgeschichte: Es ist „Das Floß der Medusa“, ein Gemälde aus der Kolonialzeit im 19. Jahrhundert. Die französische Fregatte „Medusa“ war vor Afrika auf Sand gelaufen und die Menschen an Bord versuchten sich unzulänglich auf dieses Floß zu retten, das aus den Schiffsplanken zusammengebaut wurde. Nur wenige überlebten unter üblen Bedingungen. Auf dem Bild von Sebastian Tröger aber erinnert es uns an die Flüchtlinge, die heute auf prekären Booten übers Meer reisen.
Das Meer selbst ist auf diesem Bild schwarz wie eine riesige Ölflut. In der Mitte des Bildes thront ein mächtiger stilisierter Adler als Symbol für Gewaltherrschaft. Hinter ihm Kämpfer des Islamischen Staats.
Vorne am Strand liegen ein von Angst und Furcht plattgemachter Mann und der Künstler selbst auf dem Rücken, der hilflos eine zarte Blume in die Mitte des Bildes streckt wie ein Stück Leben, das er retten will, wie eine Friedensgeste, die er ausstreckt. Über ihm tummeln sich schreckliche Viren und Bakterien. Und ganz rechts im Bild jagen malträtierte und wild gewordene Tiere und Monster ins Bild.
Kraftvolle Pinselstriche – eine wilde Dynamik breitet sich über das ganze Bild aus wie die „Große Angst“ selbst, die auf uns einstürmt. Sebastian Tröger hat sich wirklich an den Ängsten unserer Zeit orientiert und eindrucksvolles Panorama geschaffen.
Gesellschaft der Angst
Soziologen sagen, dass wir heute in einer „Gesellschaft der Angst“ leben. Das sei geradezu ihr Markenzeichen. Denn eigentlich geht es uns in Deutschland heute ja sehr gut. Die Wirtschaft floriert. Die Exporte steigen, damit unsere Einnahmen und die Steuergewinne des Staates. Bei uns müssen keine Renten gekürzt werden und die Krankenkassen können alles Wichtige bezahlen. – Aber wir trauen dem vordergründigen Frieden nicht mehr, anders in den Zeiten des Aufbaus nach dem Krieg und der Wohlstandsgewinne der 70er Jahre. Damals hatten wir das Gefühl, es wird immer aufwärts gehen. Der Wohlstand wird steigen und alle werden daran teilhaben. Heute hat sich das Grundgefühl geändert: Wir spüren, dass unser Wohlstand brüchig geworden sein könnte und dass uns Verluste aller möglichen Art drohen. Der Exportüberschuss ist ja nicht unproblematisch, weil sich dafür andere Staaten verschulden müssen. Und während wir in Frieden leben, stauen sich anderswo Unheile aller Art, vertreiben Gewaltexzesse Menschen aus ihrer Heimat und lassen zerstörte Kulturlandschaften zurück. Und manchmal bricht die Bedrohung ganz real ein, so wie zuletzt bei dem Attentat in Manchester am vergangenen Dienstag.
Ehe Gefahren da sind, können wir sie durch Angst vorwegnehmen. Ängste können uns warnen, rechtzeitig umzusteuern. Dann sind sie ein Frühwarnsystem und stehen im Dienst unseres Überlebens.
Sie können uns aber auch im Griff haben und beherrschen: „Phobos und Ares erobern die Welt“. Dann erstarren wir, wir schotten uns ab, setzen Scheuklappen auf und igeln uns ein. Wir greifen die an, von denen wir uns bedroht fühlen, und verlieren das reale Augenmaß für die komplexe Wirklichkeit.
„Fürchtet euch nicht“ – Der göttliche Gruß
„Fürchtet euch!“ heißt die Ausstellung, in der Sebastian Trögers „Große Angst“ gezeigt wird, – oder „Fürchtet euch (nicht)!“ – je nachdem, ob man die Klammer mitliest oder nicht. Dieser Ausstellungstitel spielt mit einem biblischen Zitat. „Fürchtet euch nicht!“ und „Fürchte dich nicht!“ – das ist eine Formulierung, die im Alten und Neuen Testament unzählige Male vorkommt. Es ist – das überrascht vielleicht – eine Begrüßungsformel. Mit diesem Gruß kommt Gott den Menschen jeweils entgegen, wenn er ihnen begegnet. Mit ihm eröffnet er sein Sprechen. Erstmals lesen wir diesen Gruß bei Abraham, als er aus seiner Heimat im Zweistromland wegziehen soll, danach bei Jakob, der wegen einer Hungersnot im Land Kanaan nach Ägypten auswandern soll, schließlich immer wieder beim Volk Israel – beim Exodus aus Ägypten, in den 40 Jahren der Wüste und im Babylonischen Exil. Im Neuen Testament wird es der Verkündigungsengel sein, als er sich Maria nähert, um die Geburt Jesu anzukündigen, und die Engel in der Heiligen Nacht, als sie den Hirten auf den Feldern die Geburt des Heilands ansagen. Das „Fürchtet euch nicht!“ durchzieht die Bibel von Anfang bis Ende. Es ist der göttliche Gruß schlechthin.
Was für ein schöner Gruß! Gott könnte einem Angst und Schrecken einjagen, aber er tut es nicht. Vor allem anderen, bevor er weiterredet, will Gott uns die Angst und den Schrecken nehmen. Die Angst vor ihm selbst und die Angst in der Welt. Er will einen angstfreien Raum schaffen. Wer vor Angst zu erstarren droht wie das Kaninchen, das auf die Schlange starrt, den will der entängstigende Gruß dazu bringen, die Starre zu lösen, den Blick wieder zu weiten und sich wieder frei zu bewegen.
Der Mensch als Wesen der Angst
Warum eigentlich ist der Mensch zur Angst fähig? Ein Tier spürt nur die unmittelbare Gefahr, fürchtet sich und greift an oder flieht, je nachdem, ob es sich unterlegen oder überlegen fühlt.
Menschen aber mit ihrem weiter entwickelten Gehirn, mit der Begabung zu Sprache und Denken, können Angst haben, ohne dass eine konkrete Gefahrensituation da ist. Das hängt mit unserer Vorstellungskraft zusammen. Wir haben die Fähigkeit, nicht nur in der Gegenwart zu leben, sondern Zukünfte vorwegzunehmen. Ein Wort reicht, um Unruhe in uns zu säen. Es sind Worte, die wir aufschnappen, Vorstellungen, die uns unruhig machen und Ängste wecken, bis wir irgendetwas tun, von dem wir uns Entspannung versprechen. Oft ist es mehr ein Reflex als eine sinnvolle, abgewogene Handlung.
Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber, heißt es. – Warum? Weil Angst in unserem Gehirn alte Gehirnteile anspricht, die nur mit Flucht oder Angriff reagieren können. Während unsere jüngeren Gehirnanteile, also die riesige Großhirnrinde, in der Lage ist, Information zu beschaffen, einzuordnen, Bezüge herzustellen, abzuwägen, Alternativen zu durchdenken und dann das möglichst Beste zu wählen.
Wir leben in einer Zeit, in der viele Populisten gezielt und direkt an unsere Ängste appellieren. Wer die Menschen bei ihren Ängsten packt, kann sie leicht manipulieren. Er ruft unsere archaischen Instinkte wach, und die heißen eben Flucht oder Angriff. Dementsprechend wächst nicht nur das Angstgefühl in unserer Gesellschaft, sondern auch die Ungeduld und die Bereitschaft zu aggressivem Reden und Handeln. Populisten versprechen einfache und schnelle Lösungen auf geschürte Ängste. Es ist wie ein Kurzschluss zwischen Angst und Reflex.
Wenn Gott uns mit dem Gruß entgegenkommt „Fürchte euch nicht!“, dann unterbricht er zu allererst unsere Angstkreisläufe. Die Reflexe. Den Kurzschluss im Gehirn. Er stellt eine Situation der Ruhe her: niemand soll getrieben sein, niemandem soll die Luft zum Atmen und Denken genommen werden. Ein Freiraum soll entstehen, in dem wir uns ungefährdet fühlen. Diese Unterbrechung ist das Erste und Grundlegende des göttlichen Grußes. Glaube, das ist zu allererst angstfreier Raum. Eine Grundentspannung im Dasein. „Es kann mir nichts geschehen als was du hast ersehen“. Ein solches Grundvertrauen heilt und rettet in sich. Glaube ist Gelassenheit, die von Gott kommt. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ heißt es im Psalm. Und damit, liebe Gemeinde, macht er uns frei zu einem besonnen und überlegten Handeln.
Wer nicht durch Angst gebannt ist, wer nicht durch Angst enggeführt ist, der hebt die Augen und schaut. Er nimmt die Krise zum Anlass, nicht die Schotten dicht zu machen, sondern um zu fragen: Gibt es etwas, das wir übersehen haben bis jetzt? Wenn eine Gefahr droht: Worauf macht sie uns aufmerksam? Wozu fordert sie uns auf und heraus. Wer nicht mit seiner Angst kurzgeschlossen ist, der sucht mit offenem Blick neue Perspektiven. Man könnte sagen: Wer glaubt, gewinnt eine Dimension im Leben hinzu. Und damit eine größere Freiheit.
Mehrdimensionalität des Glaubens
Dietrich Bonhoeffer hat in Zeiten größter Angst in seinen Gefängnisbriefen aus Tegel zu Pfingsten 1944 dazu an einen Freund geschrieben: „Ich hoffe, dass ihr trotz der Alarme die Ruhe und Schönheit dieser vorsommerlich warmen Pfingsttage voll auskostet. Man lernt es ja allmählich, von den Bedrohungen des Lebens Abstand zu gewinnen, d.h. Abstand zu gewinnen klingt eigentlich zu negativ, … richtiger ist es wohl zu sagen: man nimmt diese täglichen Bedrohungen in das Ganze des Lebens mit hinein. Ich beobachte hier immer wieder, dass es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können. Wenn Flieger kommen, sind sie nur Angst; wenn es etwas Gutes zu essen gibt, sind sie nur Gier; wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt; wenn etwas gelingt, sehen sie nichts anderes mehr. Sie gehen an der Fülle des Lebens und an der Ganzheit einer eigenen Existenz vorbei.“ Demgegenüber stellt uns der Glaube „in verschiedene Dimensionen des Lebens zur gleichen Zeit; wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns. Wir weinen mit den Weinenden und freuen uns zugleich mit den Fröhlichen. … Das Leben wird nicht in eine einzige Dimension zurückgedrängt, sondern es bleibt mehrdimensional-polyphon (vielstimmig). Welch eine Befreiung ist es denken zu können und in Gedanken die Mehrdimensionalität aufrecht zu erhalten.“
Eine solche Mehrdimensionalität im Denken ist für Dietrich Bonhoeffer die Brücke oder sogar der Inbegriff des Glaubens. Sie hebt uns aus dem Gefängnis der Reflexe und Kurzschlüsse heraus. Aus dem Gefangensein der puren Sorge um uns. Sie macht uns aus Getriebenen zu solchen, die sich auch in andere hineinversetzen können. Sie macht uns frei.
Für eine Gesellschaft der Angst, die wir geworden sind, ist dies eine wichtige Dimension. Vieles liegt vor uns, das uns wirklich Angst macht. Aber es gibt auch Kräfte, die unsere Ängste gezielt einsetzen und schüren. Populistische Angstmacher setzen auf unsere niedrigsten Instinkte. Doch Abschottung, die eigene Haut retten wollen, schafft die Probleme nicht aus der Welt. Wir müssen ihnen offen ins Auge sehen.
Der göttliche Gruß, uns nicht zu fürchten, ist das Gegenteil dazu. Er ist ein Türöffner. Er gibt uns den Mut, allem mit einem Grundvertrauen und einer Grundoffenheit zu begegnen. Seit den frühesten Zeiten, die das Alte Testament spiegelt, waren die Menschen im Umbruch, auf Wanderung durch Wüsten, im Exil, in Bewegung. Daraus ist Neues entstanden, neue Geschichte, neue Beziehungen, neue Erzählungen über Aufbruch, Durchhängen und Ankommen.
Unser Glaube ist ein Fundament, eine Grundstabilisierung. Auf ihm erträgt man Turbulenzen leichter.
Liebe Gemeinde, das heißt nicht, dass wir uns nicht ängstigen. Jesus sagt einmal ganz realistisch: „In der Welt habt ihr Angst“. Ja, oft haben wir Angst. Ob uns die Felle davon schwimmen. Ob wir abstürzen. Ob wir alles schaffen, was wir meinen tun zu müssen. – Dann hilft nur ein Ebenenwechsel in die Mehrdimensionalität des Denkens und Glaubens: Ich tue was ich kann. Aber am Ende vertraue ich darauf, dass die Dinge sich zum Guten fügen, und sei es über Umwege.
Tägliche Demokratiearbeit
Vielleicht haben Sie am Himmelfahrtstag eine Übertragung vom Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin gesehen:
Auf einer Bühne vor dem Brandenburger Tor sprachen der Landesbischof und EKD Ratspräsident Heinrich Bedford-Strohm und die Kirchentagspräsidentin mit Angela Merkel und Barack Obama. Das Thema war, „Engagiert Demokratie gestalten – Zuhause und in der Welt Verantwortung übernehmen“. Im zweiten Teil kamen auch Jugendliche zum Gespräch dazu. Es war für mich eindrucksvoll, wie besonnen und klug beide Politiker auf die moralisch dringlichen Fragen der Kirchenvertreter geantwortet haben.
Sie haben das beide auch deutlich als glaubende Christen getan. Motiviert aus ihrem Glauben, im Bewusstsein der eigenen Grenzen und Fehlbarkeit, wissend dass in einer Demokratie immer Kompromisse geschlossen werden müssen – und dass auch die Sichtweise des anderen berechtigt ist. Es war ein nüchtern pragmatischer und protestantischer Politikstil, der sich hier gezeigt hat. Wohltuend auch gegenüber all den populistischen Tönen, die derzeit Alleinvertretungs- und Allmachtsvorstellungen ausdrücken.
Gleichzeitig lief in der Sophienkirche die Kontrastveranstaltung zum Thema „Christsein und Mitglied der AfD geht das?“ mit der Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft „Christen in der AfD“. Dort ging es um Ängste, um die Frage, ob die AfD die Ängste der Menschen nur ernst nimmt oder ob sie sie schürt. Ja, sie schürt sie. Und ihr Menschenbild ist alles andere als christlich. Das hat der Berliner Bischof Dröge in diesem Gespräch auch deutlich gezeigt.
Am gestrigen Samstag hat zum Abschluss in Berlin auch Bundespräsident Walter Steinmeier gesprochen. Er hätte der Präsident des nächsten Kirchentags sein sollen, wäre er nicht Bundespräsident geworden. Und auch an seiner Rede zeigt sich, wie nahe ein angstfreier Glaube und Verantwortung für das Ganze sind. Er hat angesprochen, dass es eine wachsende Aggressivität gibt, eine Tendenz zu Hass, Häme und Härte in vielen Online-Foren. Und dass wir prüfen müssen, welche Informationen vertrauenswürdig sind.
Der Kirchentag ist ein gutes Format, um Glauben und gesellschaftliche Verantwortung zusammen zu bringen. Und um den gesellschaftlichen Ängsten durch Nachdenken, Gemeinschaft und Solidarität zu begegnen.
„Phobos und Ares erobern die Welt“ – heißt es im Bild „Die Große Angst“. Dagegen können wir etwas tun. „Fürchtet euch nicht!“.
Jutta Höcht-Stöhr, Leiterin der Evangelischen Stadtakademie München