Predigt von Jutta Höcht-Stöhr am 21.7.2019 in St. Matthäus
Jobeljahr, Jubeljahr, Jubiläum – Geschichte einer Idee
„Alle Jubeljahre“ – das sagt man, wenn man ausdrücken will, etwas kommt ganz selten vor: „Wir sehen uns alle Jubeljahre einmal“, zum Beispiel. Aber diese Redewendung hat es in sich, denn sie hat eine bedeutsame Geschichte, die man ihr nicht mehr ansieht: Sie kommt aus dem Alten Testament. Und zwar aus der Gesetzgebung für das Volk Israel am Sinai. Dort heißt das Wort „Jobeljahr“. „Jobel“, das war das Widerhorn, mit dem alle 50 Jahre am Versöhnungstag mit einem Freudenschall ein Jobeljahr angekündigt wurde.
Dieses Jahr brachte jeweils den Erlass aller Schulden mit sich: Wer sich verschuldet hatte und in Schuldsklaverei gekommen war, wurde freigelassen, und wer Grund und Boden verkaufen musste, weil er verarmt war, bekam sein Land zurück. Auf diese Weise sollte die Schere im Volk zwischen arm und reich wieder geschlossen werden. Einmal in jeder Generation sollten die Besitzverhältnisse wieder auf Null gestellt und so eine annähernde Gleichstellung in der Bevölkerung erreicht werden. Bei der Übersetzung des hebräischen Wortes ins Lateinische hat man aus dem „Jobeljahr“ lautmalerisch das „Jubeljahr“ gemacht. Ganz falsch war das nicht, denn der Klang des Widderhorns war ja – jedenfalls für viele – ein Freudenschall.
Papst Bonifatius VIII stiftete im Jahr 1300 dann ein „Jubeljahr“ in der Kirche, das von dem alttestamentlichen Brauch inspiriert war. Allerdings ging es dabei nun um einen Ablass für Kirchenstrafen. Die Kirche erließ Bußstrafen, die sie zuvor selbst für Sünden verhängt hatte. Eine Sozialutopie im Sinne der irdischen Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen im Gottesvolk war das nicht mehr. Es wird eher zum Disziplinierungsinstrument für die Gläubigen. Das letzte „Heilige Jahr“ oder Jubeljahr hat übrigens Papst Franziskus 2016 ausgerufen. Er hat es als „Jahr der Barmherzigkeit“ verkündet und damit an den alten Sinn erinnert, der ihm entspricht. Aber auch Ablass gab es noch. Den erhielt man, wenn man – nach Ablegen der Beichte – durch die Heilige Pforte etwa am Petersdom oder am Kölner Dom ging.
Auch unser ganz säkularer Begriff „Jubiläum“ kommt von jenem alttestamentlichen Jobeljahr. Allerdings hat es seine präzise Bedeutung verloren. Ein Jubiläum meint heute alles, was sich mit runder Zahl jährt: Vom Firmen- bis zum Ehejubiläum. Doch mit der Begriffsverschiebung weg vom Ursprung ist auch die große soziale Vision in Vergessenheit geraten, die hinter dem Jubeljahr steckt. An sie möchte ich heute erinnern. Denn vielleicht kann sie auch uns inspirieren.
Eine soziale Utopie
Auf diese Vision gekommen bin ich, weil wir in der Stadtakademie vor einer Woche einen Vortrag zum Thema Wohnen in der Stadt hatten, ein Thema, das heute vielen Angst macht, weil sie fürchten, dass sie sich die steigenden Mieten irgendwann nicht mehr leisten können. Der Vortrag hieß: „Grund und Boden – die verkannte Umverteilungsmaschine“. Gemeint war: Wer heute Grund und Boden besitzt, hat das entscheidende Vermögen, das ihn immer reicher machen wird. Als ich vor dem Vortrag mit dem Referenten gesprochen und dabei auch erwähnt habe, dass ich Pfarrerin bin, sagte er direkt und ganz spontan: „Ich bin nicht gläubig, aber in der Bibel stehen gute Sachen.“ Eine solche Aussage macht natürlich neugierig, und auf Nachfrage, was er denn genau meint, sagte er: „Das Alte Testament beschreibt Grundkonflikte zwischen Menschen. Es stellt darüber hinaus aber auch noch gesellschaftliche Visionen auf, die visionärer sind als Karl Marx!“ Das stimmt. Und das Jubeljahr gehört dazu. Es ist eine der revolutionärsten gesellschaftlichen Visionen.
Das Alte Israel hatte eine Sozialgesetzgebung vom feinsten. Das können Sie im 3. und 5. Buch Mose nachlesen. Wie sah das konkret aus?
Zum Beispiel so: Wie Gott in der Schöpfungserzählung am siebten Tag ruht, soll auch der Mensch alle sieben Tage einen Ruhetag bekommen, einen Sabbat für ihn, aber auch für seine Knechte und Mägde und für seine Arbeits- und Lasttiere. Aber nicht nur die Lebewesen, auch das Land soll seinen Sabbat haben. Alle sieben Jahre soll ein „Sabbatjahr“ gefeiert werden: eine Ruhezeit, eine Brache, eine Zeit der Erholung für den Boden. Und alle sieben mal sieben Jahre noch mehr: nicht nur ein Ruhejahr, sondern eben ein „Jobeljahr“, ein Erlassjahr, in dem alle Verschuldungen aufgehoben werden. Aller verkaufte Grund und Boden musste an den ursprünglichen Besitzer zurück gegeben werden und alle in Schuldsklaverei Geratenen mussten wieder freigelassen werden. Ein Jahr des Aufatmens, in dem die Menschenwürde wieder hergestellt wird und alle Angehörigen des Gottesvolkes wieder zu freien Menschen werden. Dies alle 50 Jahre. D.h. einmal in jeder Generation sollten die ursprünglichen gleichen Besitzverhältnisse wieder hergestellt werden.
Hören wir einfach einmal in den Originalton dieser Gesetzgebung hinein. Ich lese aus dem 3. Buch Mose Kapitel 25 (1 -5, 8 – 10, 15.16.23):
1 Der HERR sprach zu Mose auf dem Berg Sinai: 2 Rede zu den Israeliten und sage ihnen: Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, so soll das Land eine Sabbatruhe für den HERRN halten. 3 Sechs Jahre sollst du dein Feld bestellen und sechs Jahre deine Weinberge beschneiden und ihren Ertrag ernten. 4 Im siebten Jahr aber soll das Land völlige Ruhe haben, eine Sabbatruhe für den HERRN: Da darfst du dein Feld nicht bestellen und deinen Weinberg nicht beschneiden. 5 Den Nachwuchs deiner vorigen Ernte sollst du nicht ernten und die Trauben deines nicht beschnittenen Weinstockes sollst du nicht lesen. Es soll ein Jahr der Sabbatruhe für das Land sein.
8 Und Du sollst sieben Sabbatjahre, siebenmal sieben Jahre abzählen, sodass die Zeit der sieben Ruhejahre 49 Jahre beträgt. 9 Dann, im siebten Monat, am zehnten Tag des Monats, sollst du das schallende Horn ertönen lassen; am Versöhnungstag sollt ihr das Horn im ganzen Land ertönen lassen. 10 Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Ein Jobeljahr soll es für euch sein. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder soll zu seiner Sippe heimkehren.
15 Kaufst du von deinem Mitbürger, so berücksichtige die Zahl der Jahre nach dem Jobeljahr; verkauft er dir, dann soll er die noch ausstehenden Ertragsjahre berücksichtigen.
16 Je höher die Anzahl der Jahre, desto höher berechne den Kaufpreis; je geringer die Anzahl der Jahre, desto weniger verlange von ihm; denn es ist die Zahl von Ernteerträgen, die er dir verkauft.
23 Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denn das Land gehört mir und ihr seid nur Fremde und Beisassen bei mir.
Der letzte Satz ist der Schlüssel: das Land gehört nicht euch. Es gehört Gott und ist den Menschen nur auf Zeit gegeben. Es ist kein Privateigentum. Land kann daher nicht für immer verkauft werden. Es gibt nur eine Art Nutzungsrecht: Man kann 25 Jahr nach dem Jubeljahr nur noch den halben Preis verlangen, wenn man es verkauft, denn nach 50 Jahren fällt es an den Verkäufer zurück. „Erbpacht“ würden wir heute zu diesem Modell sagen.
Ob Israel diese revolutionäre Sozialgesetzgebung je realisiert hat, ist fraglich. Die alttestamentlichen Propheten kritisieren scharf, dass Großgrundbesitzer Land anhäufen. Und als Israel im Jahr 587 vor Christus für 50 Jahre ins Babylonische Exil muss, interpretieren die Propheten es als Strafe für die ungerechten Verhältnisse und den Missbrauch des Landes. Diese Strafe hatte Gott bei der Gesetzgebung selbst angedroht:
„Wenn ihr meine Satzungen missachtet und meinen Bund brecht, so tue auch ich euch Folgendes an: Ich selbst verwüste das Land; eure Feinde, die sich darin niederlassen, werden darüber entsetzt sein. Euch aber zerstreue ich unter die Völker und zücke hinter euch das Schwert. Euer Land wird zur Wüste und eure Städte werden zu Ruinen. Dann erhält das Land seine Sabbate ersetzt, während ihr im Land eurer Feinde seid.“ (3. Mose 26, 32 – 34)
Unser kulturelles Erbe
Liebe Gemeinde, wir sind nicht das Volk Israel, aber die soziale Utopie, die in diesen Gesetzen steckt, gehört mit dem Alten Testament zu unserem kulturellen Erbe. Es sind starke Visionen, und gerade sind wir dabei, sie neu zu entdecken, weil wir merken, dass die Städte uns, ihren Bewohnern, verloren gehen. Weil es Menschen mit sehr viel Geld gibt, die Grund und Boden weltweit als Kapitalanlage aufkaufen und ihre Bewohner verdrängen können. Plötzlich ist sie wieder da: die Grundauffassung der biblischen Überlieferung, dass der Boden kein Privateigentum sein soll. Dass er nicht für immer verkauft, sondern nur auf Zeit vergeben werden soll, um dann an die öffentliche Hand zurück zu fallen und dem Gemeinwohl zu dienen. In den säkularsten Zeiten gibt es gute Gründe, in den alten Schriften zu lesen, um die soziale Fantasie zu stärken.
Es geht um einen Begriff der Gerechtigkeit, der nicht einfach sagt: „Jeder bekommt, was er verdient“.
Es geht um eine Gerechtigkeit, die dem Zusammenleben dient. Die immer wieder hergestellt werden muss, wenn sich die Dinge verschoben haben. Die dem Menschen gerecht werden soll in seiner jeweiligen Situation. Die seine Würde und Freiheit erhalten soll. Diese Gerechtigkeit hat auch Barmherzigkeit in sich. Sie rechnet nicht einfach auf. Sie gleicht immer wieder aus, wenn sich Lebensverhältnisse zu sehr voneinander entfernen. Diese soziale Vision ist uns als Idee geblieben. Wie wir sie ausgestalten, ist eine Sache der Aushandlung und der politischen Vernunft, auch der Interessenskonflikte. Aber klar ist, dass es der sozialen Marktwirtschaft genau darum geht und gehen muss.
Die Spur ins Neue Testament
Der alttestamentliche Text vom Jobeljahr hat aber noch eine andere Spur gezogen als die in die Sozialgesetzgebung. Und diese zweite Spur führt über die nachexilischen Propheten hinein ins Neue Testament.
Nach der Rückkehr Israels aus dem Babylonischen Exil, nach 50 Jahren Verlust des Landes und Leben in der Fremde, trat ein anonymer Prophet in Israel auf, der das Volk wieder aufrichten wollte. Seine Texte finden Sie am Ende des Jesaja-Buches (56 -66). Er nimmt Bezug auf den Gedanken des Jobeljahrs und sagt: „Der Geist Gottes ruht auf mir. Denn der HERR hat mich gesalbt. er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die gebrochenen Herzens sind; den Gefangenen Freilassung und den Gefesselten Befreiung anzukündigen, auszurufen ein Gnadenjahr des HERRN.“ (Jesaja 61,1f).
Und von hier aus zieht sich nun die Spur weiter ins Evangelium. Übrigens nur ins Evangelium nach Lukas, der in besonderer Weise der Evangelist der Armen und Entmutigten ist. Als Jesus dort seine öffentliche Wirksamkeit beginnt, tut er das nach Lukas in der Synagoge von Nazareth mit einer Lesung und Auslegung zu genau diesem Prophetentext. (Den Text haben Sie vorhin in der Lesung gehört.) Jesus schließt die Lesung aus dem Jesajabuch in der Synagoge von Nazareth mit den Worten: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“.
Da bleibt einem erst einmal der Atem stehen. Dass einer, der eine Prophetenverheißung von solcher Wucht vorliest, sagt: „Heute, jetzt und hier und indem ich zu euch spreche, ist diese Verheißung erfüllt“. Er nimmt für sich in Anspruch, mit dieser programmatischen Predigt ein Gnadenjahr Gottes, ein Jubeljahr auszurufen. Ob Jesus drei oder nur ein Jahr gewirkt hat, ist in den Evangelien unterschiedlich vermerkt. Aber das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, dass Jesus ein Jahr der Freilassung im Sinn eines Jobeljahrs verkündet. Ein Jahr des Schuldenerlasses und der Rückkehr in die Freiheit.
In seiner Predigt geht es nicht um die soziale Frage von Land und Schuldknechtschaft. Ihm geht es um die innere Freiheit des Menschen. Denn die inneren Bindungen können so zerstörerisch sein wie die äußeren. Wer sich mit Schuldgefühlen quält, wer sich minderwertig und ausgeschlossen fühlt, dessen Lebensgrundlage ist genauso zerstört wie die Grundlage dessen, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Geknechtet sind wir auch durch harte Anforderungen aller Art, die wir an uns selber stellen. Durch die wir uns immer defizitär fühlen.
Jesus wird mit allen, denen er begegnet und die ihm begegnen, im Sinne einer Freisprechung umgehen. Sie sollen aus der Isolierung zurückkommen in die Gemeinschaft. Sie sollen Vertrauen in ihr Leben zurückgewinnen. Sie sollen wieder frei sehen und gehen lernen. Sie sollen wieder Freude an ihrem Leben finden und unbelastet sein.
Das ist der Tenor des Evangeliums: die innere Freiheit und Lebensfreude zurück zu gewinnen. Das ist der Ursprungsimpuls, aus dem die Kirche hervorgegangen ist. Dass wir selber als Kirche immer wieder zur Unfreiheit und Bedrückung der Menschen beigetragen haben, ist die Perversion des Evangeliums. Dass es immer wieder Anstöße braucht, zur ursprünglichen Vision Jesu zurückzufinden, ist überdeutlich. Ein Ablass-Jahr der Katholischen Kirche reicht dafür nicht aus. Das Jobeljahr hat eine größere Dimension: Es geht um Freilassung der Menschen aus Abhängigkeit und Unfreiheit, auch in der Kirche.
Äußere Gerechtigkeit und innere Freiheit
Wenn ich vorhin gesagt habe: die soziale Vision von der Gleichheit aller Menschen ist ein Kulturerbe, das bis auf die Sozialgesetzgebung des Alten Testaments zurückgeht, so ist das Erbe der Kirche die Vision von der inneren Freiheit und Aufrichtung des Menschen. Äußere Gerechtigkeit und innere Freiheit, das ist der bleibende Impuls der Bibel. Keins ohne das andere.
Ein kluger Alttestamentler, Frank Crüsemann, hat ein Buch geschrieben: „Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen“. Das klingt kompliziert, meint aber: Wenn wir die Texte des Neuen Testaments lesen, die von der inneren Befreiung des Menschen sprechen, so sind die alttestamentlichen Vorstellungen der Grund, auf dem die neutestamentlichen aufbauen. Das Alte Testament ist nicht das, was im Neuen Testament zurück gelassen wird, sondern es ist der Wahrheitsraum, in dem Jesus zuhause war.
Der Weg, den der Begriff des Jobeljahrs zurücklegt, von der realen Sozialgesetzgebung hin zu einem Akt innerer Freiwerdung ist typisch für dieses Verhältnis von Altem und Neuem Testament. Jesus gibt nicht die Ordnung eines Gemeinwesens vor. Aber er wendet all diese Grundgedanken auf die menschliche Seele oder Psyche an. Beides gehört in der Bibel zusammen.
Ich habe mich gefreut, als der ungläubige Professor, der bei uns über Grund und Boden sprach, sagte, er schätze die Bibel sehr, auch wenn er nicht Mitglied der Kirche sei. Das zeigt die Qualität dieser Überlieferung. Und ich empfinde, dass wir einen großen Schatz in diesen beiden Testamenten oder Vermächtnissen haben.